Frauen in der Ukraine – Zwischen Tradition und Moderne
Am Montag, den 28.10.2019, referierte die ukrainische Journalistin Natalka Sniadanko (geb. 1973 in Lwiw/Lemberg) in der Aula vor Oberstufenklassen „Zur Situation der Frauen in der Ukraine vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“.
Um die aktuelle Situation besser verständlich zu machen, schilderte sie zunächst die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Frauenrolle seit 1900 in der Ukraine, die vor dem Ersten Weltkrieg kein eigenständiger Staat war, sondern unter russischer, polnischer und österreichischer Herrschaft stand. Die 1919 erreichte Unabhängigkeit währte nur kurz, denn 1922 wurde die Ukraine von der Sowjetunion erobert, kommunistisch umgeformt und russifiziert.
Sehr anschaulich war die Präsentation durch die Fotos von Frauen, deren Lebenslauf exemplarisch für jeden Entwicklungsschritt der Frauenfrage stehen. Viele dieser Frauen waren vergessen und ihre Geschichte wurde erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine aufgearbeitet.
Natalka Sniadanko legte dar, dass die Frauen vor dem Ersten Weltkrieg keine politischen Rechte hatten, über ihr Leben nicht selbst bestimmen konnten, nicht einmal einen eigenen Pass erhielten, also auch nicht reisen konnten, es sei denn, der Ehemann willigte ein und sorgte für die Papiere. Eine Ausnahme bildet hier Opernsängerin Salome Kruschelnytska (1872-1952), nach der heute das Lemberger Opernhaus benannt ist. Als begnadete Sängerin trat sie in der ganzen Welt auf und konnte sich deshalb frei bewegen.
Frauen in der Sowjetunion – Zwischen Gleichberechtigung und Verfolgung
Wie in Deutschland mussten die Frauen während des Ersten Weltkrieges überall dort einspringen, wo die Männer jetzt fehlten. Viele waren auch an der Front eingesetzt und schöpften daraus ein neues Selbstvertrauen und den Anspruch auf politische Beteiligung. Dieser Einsatz wurde in der Sowjetunion „belohnt“: Die Frauen erhielten die vollen politischen Rechte und waren formal auf allen Ebenen gleichberechtigt.
Es bestand für alle die Pflicht zur Arbeit (Wer nicht erwerbstätig war, wurde bestraft!) und bei Ausbildungsberufen wurde eine 30%-Quote für Frauen eingeführt, beim Komsomol (Jugendorganisation) wurde ein Frauenanteil von 25% angestrebt. Frauen wurden in der Industrie, auf dem Bau und in der Metallindustrie tätig. Es galt das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Damit hatte sich in den Augen der kommunistischen Funktionäre die Frauenfrage erledigt.
„Faktisch hatten die Frauen aber eine dreifache Belastung“, erklärte Sniadanko, „sie mussten Vollzeit arbeiten, zu Hause sich um die Kinder und den Haushalt kümmern und ihren Ehemann bedienen.“ Auch Lohngleichheit stand häufig nur auf dem Papier; in der Textilindustrie bekamen die Frauen nur 70%. Der Internationale Frauentag (8.März), eigentlich ein Kampftag der Frauenbewegung, wurde in der Sowjetunion ein offizieller Feiertag, an dem die Männer den Frauen Blumen schenkten. „Als Belohnung für die treuen Dienste“, wie die Referentin süffisant anmerkte. „So ist es bis heute: Blumen statt Auseinandersetzung mit der Frauenrolle. Dann kann man diesen Feiertag auch abschaffen!“
„Wie sah es denn bei den Funktionärsfrauen aus? Übernahmen sie auch politische Ämter?“, wollte ein Schüler wissen. „Die Ehefrauen von Funktionären waren privilegiert, sie mussten nicht arbeiten und hatten einen deutlich höheren Lebensstandard. Das war für manche Frauen erstrebenswert, wenn sie damit auch abhängig vom Mann wurden“, erklärte Sniadanko.
Besonders bedrückend war die Lage der Frauen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach. Da ihnen die Laufbahn in der Armee offenstand, kämpften sie Seite an Seite mit den Männern – auch in Führungspositionen – gegen die deutschen Besatzer, die mit Gräueltaten das Land überzogen und denen massenhaft Kinder und Frauen zum Opfer fielen.
„Nach dem Krieg waren die Männer die Helden und wurden geehrt. Den Frauen warf man vor, sich beschmutzt und entehrt zu haben, weil sie zu engen Umgang mit den Männern gepflegt hatten. Häufig wurden sie geächtet und an den Rand gedrängt“, berichtete Sniadanko und verwies auf das Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, in dem die in der Ukraine geborene Nobelpreisträgerin für Literatur (2015), Svetlana Alexijewitsch, bewegende Berichte von Zeitzeuginnen niedergeschrieben hat. Viele litten nach dem Krieg unter dieser Missachtung ihrer Leistungen; nicht wenige starben in Armut, weil sie sozial nicht abgesichert waren.
Ganz schlimm traf es diejenigen, die der Zusammenarbeit mit den Deutschen bezichtigt wurden. Sie wurden zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien deportiert oder saßen viele Jahre im Gefängnis. Eine Frau, die vielen jüdischen Menschen in Mariupol das Leben rettete und zum Schein mit den Nazis zusammenarbeitete, wurde erst nach der Wende 1992 aus dem Gefängnis entlassen und kurz vor ihrem Tod rehabilitiert.
Bewegend sind auch die Schicksale der Frauen, die von 1944 bis 1954 als Partisaninnen im Untergrund für die Unabhängigkeit der Ukraine gegen die Sowjets kämpften und unter unsäglichen Bedingungen in den Wäldern lebten. Nach der gewaltsamen Niederschlagung dieser Bewegung wurden viele zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, so auch Olha Horshko (1917-2015) und Anna Popowytsch (1925 – 2015). Dieses Schicksal traf auch diejenigen, die in der Folgezeit den Kommunisten kritisch gegenüberstanden. So saß die Publizistin und Politikerin Kateryna Zarycka (1914-1986) von 1947 bis 1972 Jahre im Gefängnis.
Die Zeit nach der Sowjetunion – Zwischen Oma-Gesellschaft und Feminismus
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit ging Natalka Sniadanko nur kursorisch auf die jüngere Geschichte der Ukraine ein und beantwortete stattdessen Fragen aus dem Publikum.
Die Ukraine musste nach dem Erreichen der Unabhängigkeit 1991 den Umbau des politischen Apparates bewerkstelligen und politische und gesellschaftliche Reformen wie im Bildungswesen oder Gesundheitssystem durchführen. Angesichts dieser Aufgaben und aktuell auch durch den Krieg im Donbass sei die Frauenfrage wieder in den Hintergrund gerückt, merkte die Referentin an. Das zeige sich auch daran, dass erst 2017 an der Kiewer Universität (und nur dort) Gender Studies eingeführt wurden.
Auf die Frage, wie sich das moderne Familienleben gestalte, ob ein partnerschaftliches Verhältnis gepflegt werde, wo auch der Mann Aufgaben im Haushalt übernehme, erläuterte die Referentin: „Da die Frauenbewegung zur Sowjetzeit eine ‚Pause‘ machte – die Frauenfrage hatte sich ja angeblich erledigt und durfte nicht mehr thematisiert werden –, und weil die Frauen heute alle politischen Rechte haben und in der Demokratie frei sind, fehlt ein Bewusstsein dafür, dass noch immer ein traditionelles Rollenbild vorherrscht.“
Im akademischen Umfeld sei eher eine gerechte Aufgabenverteilung innerhalb der Familie zu beobachten, aber in anderen Schichten werde der Frau die Familienarbeit zugeschrieben. Väter, die die ihnen gesetzlich zustehende Elternzeit beantragen, würden belächelt und mit ironischen Bemerkungen bedacht.
„Wie leben in einer Oma-Gesellschaft“, erläuterte Sniadanko, „denn ohne die Kinderbetreuung durch die Omas geht gar nichts. Und die Omas geben das traditionelle Bild von Frauen- und Männerrolle weiter.“ Als die Geburtenrate in den 90er Jahren extrem absank, wurden Kita-Plätze gestrichen. „Heute fehlen sie massenhaft, denn die jungen Leute bekommen heute häufig drei oder vier Kinder. Da beide Eltern arbeiten müssen, denn teilweise reichen zwei Gehälter nicht zum Leben, sind sie auf die Großeltern angewiesen.“ Das geringe Einkommen führe dazu, dass die jungen Familien mit der Elterngeneration gemeinsam in einer Wohnung leben. Renten und Löhne würden in einen Topf geworfen und gemeinsam gewirtschaftet. Die Bindung zwischen den Generationen sei sehr hoch. Da sei es schwer, ein modernes Familienleben durchzusetzen.
„Wie sehen die Abtreibungsgesetze aus?“, fragte ein Schüler. Die Abtreibung sei in Sowjetzeiten die Verhütungsmethode Nummer 1 gewesen, was der Gesundheit der Frauen auch nicht zuträglich gewesen sei. Die Abtreibung ist in der Ukraine erlaubt; rechtsradikale Gruppierungen fordern zwar ein Abtreibungsverbot, werden das aber nicht durchsetzen können.
Durch den Krieg im Donbass und die Gewalterfahrungen der zurückkehrenden Soldaten nehme auch die Gewalt in den Familien zu, was bis vor kurzem noch als Privatsache behandelt wurde. Inzwischen dürfe die Polizei sich einmischen, aber ob sie auch tatsächlich eingreife, sei die Frage.
Eine Schülerin wollte wissen, ob sexueller Missbrauch ein Thema sei. Auch bei dieser Antwort wurden die Probleme in der Ukraine deutlich: „Häufig wird den Mädchen und Frauen selbst die Schuld bei Vergewaltigungen gegeben. Die Einrichtungen, die sich um missbrauchte Frauen kümmern, reichen überhaupt nicht aus. Dazu kommen jetzt die Vergewaltigungen an der Front in der Ost-Ukraine. Im letzten Jahr wurden 80 Fälle von russischer Seite und 11 von ukrainischer Seite dokumentiert. Aber wahrscheinlich sind die Zahlen für die Ukraine geschönt“, vermutete die Journalistin.
Auf die Frage, wie sich für sie persönlich die Arbeit als Journalistin in einer Zeitungsredaktion gestalte, wie dort das Verhältnis zwischen Frauen und Männer sei, antwortete Sniadanko: „Deswegen habe ich gekündigt und bin nur noch freiberuflich als Journalistin tätig. Als Frau wurde ich mit dem Kulturressort abgespeist. Frauen können die ‚gläserne Decke‘ nicht durchstoßen. Dazu kommt die Medienkrise, die Stellen sind knapp.“
Dann thematisierte sie auch die Abwanderung von jungen Leuten, weil das Bildungssystem so schlecht sei. „Kommen die Leute nach dem Studium im Ausland zurück? Gibt es Startups und sind Frauen daran beteiligt?“ Die Fragen bejahte die Referentin, meinte aber, dass die Frauen immer besser sein müssten, um überhaupt anerkannt zu werden.
„Wird es besser unter dem neuen Präsidenten?“ Da war die Referentin pessimistisch: “Es wird schlechter! Der Selenskyj hat als Komiker in seiner Fernsehshow immer sexistische Witze gerissen und wusste nach der Wahl nichts anderes zu bemerken, als dass die Frauen das Markenzeichen der Ukraine seien.“ Diese Haltung sei empörend.
Auf die Frage, ob man sich in der Schule mit diesen politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetze, erklärte Sniadanko: „Es gibt kein Fach zur politischen Bildung oder einen Lehrplan, wo die Rechte der Bürger und Jugendlichen thematisiert werden oder sich mit der Frauenrolle auseinandergesetzt wird. Dafür haben wir das Fach ‚Patriotische Erziehung‘, in dem man sich mit der ukrainischen Geschichte und Kultur beschäftigt.“ Der Journalistin merkte man an, dass dieses nationalistische Konzept nicht ihrer Auffassung von politischer Bildung entspricht.
In seinem Dank an die Referentin appellierte Herr Weidinger mit Blick auf die hohen Wahlergebnisse der AfD daran, sich die Errungenschaften unserer Demokratie und unseres Sozialstaats vor Augen zu führen. Es sei durch den Vortrag sehr deutlich geworden, wie gut es uns doch im Vergleich zur Ukraine gehe.
Resonanz in der Q1a
Im Nachmittagsunterricht hatte Herr Weidinger noch die Gelegenheit, mit der Q1a über die Veranstaltung zu sprechen. Hier einige Stichpunkte zu Äußerungen der Schülerinnen und Schüler:
- außergewöhnliches, interessantes Thema, auch passend zur Altersgruppe
- viele Möglichkeiten, Fragen zu stellen, auch beeindruckende Art und Weise der Beantwortung
- besseres Verständnis über die UdSSR und die Lage der Frauen zu dieser Zeit erhalten, insbesondere Unterschiede zum Westen
- auch einiges über die Ukraine gelernt, großes Spektrum an Informationen
- anschauliche Erklärungen, sehr persönliche Eindrücke
Informationen zur Referentin und zum Veranstalter
Neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit für Lemberger Zeitungen übersetzt Natalka Sniadanko die Werke deutscher und polnischer AutorInnen ins Ukrainische. Ihr ins Deutsche übersetzter Roman „Sammlung der Leidenschaften“ schildert sehr erfrischend die ersten Liebeserfahrungen einer jungen Lembergerin in den 90er Jahren, also in den ersten Jahren der unabhängigen Ukraine, und wurde von der Kritik sehr positiv aufgenommen. Sniadanko hat in Freiburg studiert, kennt sich also auch mit den deutschen Verhältnissen sehr gut aus. In ihrem 2016 in Deutschland erschienenen Roman „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“ setzt sie sich mit der Situation von osteuropäischen Frauen auseinander, die teilweise illegal in Deutschland arbeiten und unter ständigem Druck stehen. Dabei thematisiert sie auch die Homosexualität der Protagonistin, was angesichts der Ächtung homosexueller Beziehungen in ihrem Heimatland ein kritisches Potential birgt.
Verantwortlich für die Organisation der Veranstaltungsreihe ist Wolfram Tschiche (geb. 1950), der als Dissident in der DDR unter der Beobachtung der Stasi stand und als Bürgerrechtler eine maßgebliche Rolle in der Zeit des Umbruchs 1990 spielte. Seit 2008 organisiert er Zeitzeugenprojekte, insbesondere mit Menschen aus Osteuropa, die sich mit der Geschichte der erlebten Diktaturen und dem Wandel nach dem Zerfall der Sowjetunion auseinandersetzen. Die Veranstaltungen werden von der Bundeszentrale der politischen Bildung gefördert; die 9. Projektrunde trägt in diesem Jahr den Titel „30 Jahre nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im sozialistischen Machtbereich: Was ist aus den Anliegen der ukrainischen Dissidenten geworden?“
Wir danken Herrn Weidinger für die Organisation der Veranstaltung!
Text und Fotos: Sabine Jebens-Ibs