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Der Bildhauer Bertrand Freiesleben modelliert Thomas Mann – Zu Besuch im Atelier mit der Q1c und Q1e


Er ist der Portraitbildhauer Deutschlands, lebt in Berlin, kommt gebürtig aus Lübeck und hat schon seit längerer Zeit den Traum, die drei Nobelpreisträger Lübecks als Tonköpfe zu modellieren: Bertrand Freiesleben. Thomas Mann, Willy Brandt und Günter Grass hat er sich vorgenommen. Diese Woche war Thomas Mann an der Reihe, der Namensgeber unserer Schule, und wir hatten die Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch zu kommen und zu beobachten, wie vielfältig er diesen Schriftsteller wahrnimmt und welch unterschiedliche Ausdrücke momenthaft in seinen mittlerweile schon drei Mann-Plastiken eingefangen sind. 

Vor drei Jahren hatte Bertrand Freiesleben mit dem damaligen Kunstprofil von Kunstlehrer Ingo Bruweleit ein ganzes Wochenende lang modelliert. Damals sind ca. 20 lebensgroße und sehr beeindruckende, mehransichtige Portraitplastiken entstanden, und es war bereichernd, einem Bildhauer zuzuschauen, wie er vor seiner Plastik vor- und zurücksprang, und ihm zuzuhören, wenn er erzählte, wie er beim Modellieren denkt, was ihm durch den Kopf geht, was er sieht und worauf er seinen Blick lenkt. „Könnt ihr schon ein bisschen die Dynamik erkennen?“, fragte er uns. 

Pünktlich zum Start der Einheit zum Portraitmodellieren im Kunstunterricht ergab sich jetzt die Gelegenheit für den Kunstkurs Q1c und Q1e, Bertrand Freiesleben live über die Schulter zu schauen. Dass ein Mann, der die Bundespräsidenten modelliert hat, so bodenständig wirken würde, hatten nicht alle erwartet. In seinem offenen Pop-up-Atelier im St.-Marien-Parkhaus hat er das Nötigste gelagert, um für seine dreiwöchige Aktion ausgerüstet zu sein. Dort stand auch ein Kopf von Thomas Mann auf dem Boden, in eine Tüte gehüllt, den er bei der Auftaktveranstaltung am Sonntag, 1. Mai begonnen hatte. Mittlerweile war er mit ihm zwar nicht mehr zufrieden, hatte aber schon einen zweiten in lockerer Modellierweise angefertigt – und für uns stand jetzt auf seinem Modellierbock eine dritte Armierung bereit. 

Thomas Mann, Günter Grass und Willy Brandt seien ja, das betonte er auch in seinen anderen Veranstaltungen oft, einmal auch genauso Kinder und Jugendliche gewesen wie die Schülerinnen und Schüler jetzt. Sie hatten – so Freiesleben – genauso noch ihr Leben vor sich, hatten viele Fragen an die „Welt“ und die Zukunft und waren ja auch nicht als Nobelpreisträger geboren. Bertrand Freiesleben schaffte es, uns für sein Projekt zu faszinieren, hatte seinen Laptop mit Vorlagenfotografien zu Thomas Mann an eine Staffelei gespannt und schlug plötzlich einige Klumpen Ton ans Gestell.

Jetzt musste man aufpassen, denn das Gesicht entwickelte sich schnell – die Kopfform wurde rasch angedeutet, schnelle Hiebe mit seinem Modellierwerkzeug, prüfende Blicke, dann nahm er Ton wieder weg, haute neuen dran. Er modellierte Thomas Mann von der Seite – und dann war er da, dieser kritische Blick, die lange Nase, der Bart, ein Ausdruck, wie man ihn von Thomas Mann kennt. Von vorne sah der Ton noch unbearbeitet aus. Wir waren überrascht über seine hohe Modelliergeschwindigkeit, aber plötzlich griff er seiner Plastik ins Gesicht und riss den Ton herunter – die Armierung schaute aus der Stirn heraus, der Ton war zu niedrig angesetzt, er musste neu starten. 

„Es ist wichtig, dass man bereit ist, Dinge, die man nicht für richtig hält, wieder kaputt zu machen. Wenn man sie das zweite Mal macht, wird es meist besser.“ 

Und wieder entwickelte sich in ähnlicher Weise ein spannender Ausdruck, an dem Freiesleben in den kommenden Stunden und Tagen feilen wird.

Der Prozess und auch die Interaktion zwischen ihm und dem Kunstkurs wurde von Sat.1 für einen kurzen Regionalbeitrag begleitet. Fast unbemerkt hielt die Reporterin ihre Kamera auf uns, kam ganz dicht an die Hände des Bildhauers heran und filmte fast jede Situation – das Herausholen des Tons, das Bewässern der langsam trocknenden Plastik, die ständigen Korrekturen.

„Aus dieser Perspektive stimmt erstmal so gar nichts“, meinte Freiesleben, drehte den Kopf, modellierte dort weiter – und nahm dafür in Kauf, bereits gut gelungene Partien teilweise zu zerstören, bis die Gesamtform passte, bis sich alle Formen zurechtgerückt hatten: „Alles ist eine Konstellation aus Wölbungen“.

Ich bin sehr gespannt, wie mein Kunstkurs in der kommenden Zeit an die eigenen Köpfe herangehen wird. Wir haben gelernt, dass der Kopf als Ganzer gesehen werden muss, dass Details diesem untergeordnet sind, oder in seinen Worten:

„Ganz wichtig ist es, bei der Anlage des Kopfes von Anfang an seine Dimension zu kennen und anzulegen. Immer großzügig und klar bleiben, sonst wird es spießig.“ 

Es wurde klar, dass eine unregelmäßige, nicht glatte Oberfläche ja nicht „unfertig“ sein muss, sondern gerade das Lebendige und Charakterstarke der Persönlichkeit ausstrahlen kann. 

„Ich modelliere keine Menschen, die ich schön finde, sondern die mich faszinieren“, sagte Bertrand Freiesleben. Diese Faszination für Thomas Mann haben wir sofort gemerkt. Wie sieht man sein Gegenüber? „Ich find hier die Unterlippe total cool“, entfährt es ihm plötzlich. Welche Eigenschaften kommen ins Portrait? Hierüber ging er mit uns, anderen Passanten und vielen Interessierten in Austausch. Die „hyperprägnante Seitenansicht“ Manns war für Freiesleben dabei zentral, um das Typische in seinem Gesicht einzufangen. „Wenn man das Profil hat, schiebt sich alles zurecht.“

Zuvor hatte bereits die Deutsch- und Philosophielehrerin Julia Jendroßek in wochenlanger Projektarbeit mit ihrem Deutschkurs im E-Jahrgang zu dem „Untertan“ von Thomas Manns Bruder Heinrich Mann gearbeitet. Hier stand besonders das Thema „Autorität“ im Fokus: Inwieweit ist Autorität heute noch zeitgemäß, welche positiven und negativen Auswirkungen hat Autorität? Welchen Aktualitätsbezug hat der „Untertan“ auch heute noch für uns alle? In zahlreichen Interviews und in Zusammenarbeit mit dem Buddenbrook-Haus sind hier mehrere Podcasts in Zusammenarbeit mit dem Offenen Kanal Lübecks entstanden, die auch im zugehörigen Radiosender zu hören waren. Fach- und jahrgangsübergreifend hat der Kunstkurs Q1c / Q1e sich durch Skulpturen ebenfalls mit „Autorität“ beschäftigt und v. a. geschaut, wie sie formal dargestellt werden kann: durch die Materialwahl, Oberflächenbehandlung, durch ihre Präsentation, Gerichtetheit und ihren Bezug zum Raum. Dieses fruchtbare Gemeinschaftsprojekt hat nun ihre Fortsetzung in dem Besuch bei Bertrand Freiesleben gefunden, zu dem Frau Jendroßek auch einige ihrer Schülerinnen und Schüler mitgenommen hat. 

Auch diejenigen, die vorher nicht so viel über Thomas Mann wussten, haben jetzt einen Einblick erhalten – und fühlen sich evtl. auch ein bisschen mehr mit dem Namensgeber unserer Schule verbunden. Wir bedanken uns bei Bertrand Freiesleben für die vielfältigen Einblicke ins Modellieren und seine Sicht auf Thomas Mann! „Ich höre auf, wenn ich zufrieden bin!“ Hoffentlich stellt sich diese Zufriedenheit nicht so schnell ein, damit wir ihm noch möglichst lange über die Schulter schauen können!

Text und Bilder: Ingo Bruweleit

Zitate gesammelt von: Anna G., Josie H., Paula H.