Der AfD-Kandidat tritt nicht an – “Das beispielhafte Leben des Samuel W.” in den Kammerspielen des Theaters Lübeck
Der Ort: Ein Theater in einer ostdeutschen Stadt. Zeit: Die letzten Stunden vor der entscheidenden Wahlkampfveranstaltung zur Bürgermeisterwahl. Man wartet wie gebannt auf den Kandidaten der AfD, Samuel W. Doch dieser ist nicht da. Man redet über ihn, über seine ostdeutsche Sozialisierung und seine Erfahrungen im Westen. Man fragt sich, wie er in die Politik gekommen ist, warum er in eine extremistische Partei eingetreten ist und trägt Erinnerungen an seinen Werdegang zusammen – und der Zuschauer erlebt die mangelnde Entschlossenheit des Kandidaten der bürgerlichen Mitte.
Der Autor Lukas Rietzschel hat über 100 Interviews geführt und sein Stück aus Zitaten montiert – authentischen wie fiktiven. So entsteht ein Kaleidoskop unterschiedlichster Perspektiven, Erfahrungen und Erklärungsversuche. Regisseur Helge Schmidt hat für seine Lübecker Fassung zusätzlich Interviewsequenzen mit jetzigen und ehemaligen BürgermeisterInnen der Hansestädte Lübeck und Wismar integriert, die aus ihrer Erfahrung über die Herausforderungen der Kommunalpolitik und über Tendenzen gesellschaftlicher Radikalisierung sprechen.
Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine festen Rollen. Der Text wird so verteilt, dass keine Identifikation mit einzelnen Figuren stattfinden kann. Dies tut der Intensität des dokumentarisch-theatralen Spiels aber keinen Abbruch.
Die Bühne ist einfach gehalten. Eine drehbare multifunktionale Wand ermöglicht schnelle Szenenwechsel. Bildschirme im übergroßen Handyformat zeigen live Nahaufnahmen emotionalisierter Dialoge und Lebensberichte sowie parallel zum Bühnengeschehen Amateurfilme aus dem Freizeitleben im realexistierenden Sozialismus. Ständig wechseln die Darsteller Rollen und Kleidung. Schließlich werden die Kostüme immer größer und scheinen ihre Träger zu verschlucken. Manche Textteile werden in Jingle-Liedern verdichtet.
Besonders der Umstand, dass Samuel W. nie als reale Person auftritt, bietet Raum für philosophisch-politische Interpretationen. Das Stück fragt, ob es in der modernen Politik überhaupt noch um das reale Individuum gehe oder ob ein Kandidat lediglich zum Träger von Ideologien und Ängsten der Wähler wird. Samuel W. verkörpert so die Leerstelle des Politischen: Er ist ein Konstrukt und ein Spiegel der Gesellschaft. Durch seine Abwesenheit rücken die Interaktionen und die Projektionen des Publikums und der anderen Charaktere in den Mittelpunkt. Dies wirft die Frage auf, ob Wähler heute eher Hoffnungen und Narrative wählen als eine tatsächliche Person.
Fazit der Klasse
Die Klasse 10a besuchte die Aufführung am 13.11.2025 und fand das Stück überaus interessant, anregend und realitätsnah. Gelobt wurde die direkte Sprache, die gelungene Kombination von Dokumentation und Theater sowie die Darstellung der Herausforderungen in Ostdeutschland – durchaus mit Seitenblick auf den Westen. Einige Schülerinnen und Schüler merkten an, dass die offene Struktur und einige philosophische Fragen zu Verständnisproblemen führen konnten. Dies wurde jedoch auch als Aufforderung zur eigenständigen Auseinandersetzung und zur Reflexion über die Möglichkeiten des politischen Theaters interpretiert. Der Theaterbesuch war somit ein großer Erfolg und ermöglichte der Klasse 10a einen Einblick in die politische Meinungsbildung. Er unterstrich die Bedeutung der Kulturförderung durch Institutionen wie die Michael-Haukohl-Stiftung für die Demokratiebildung. Wir danken für die großzügige Finanzierung der Eintrittskarten!
Emil R., Ben M. für die 10a